Der Mythos des nächtlichen Milchdiebes
Wie muss man sich einen Vogel vorstellen, der den Namen Ziegenmelker trägt? Ein weicher, abgerundeter Schnabel? Besonders kräftige und gut koordinierte Flügel? Nein, er kommt tatsächlich ganz anders daher, als der Name impliziert: ein etwa drosselgroßer Körper, ein flacher Kopf mit großen, pechschwarzen Augen, ein breiter, von ganz genau zwölf Borsten umgebener Schnabel und sehr kurze, dünne Beinchen. Der daher etwas irreführende Name geht nämlich auf einen Mythos zurück. Plinius der Ältere beschrieb den Ziegenmelker in seiner Naturalis historia als abscheulichen Vogel, der nachts den Ziegen die Milch aus den Eutern söge, woraufhin diese erblinden würden. Dass dieser, zugegeben etwas kauzig aussehende Zeitgenosse wohl nur von Insekten angelockt wurde, die das Weidevieh umgaben, reichte bis heute nicht als Erklärung, ihn wieder umzutaufen.
Meister der Tarnung
Wer im späten Frühling in Niedersachsen oder in den östlichen Bundesländern Deutschlands durch lichte Kiefernwälder, Moore oder weite Heidelandschaften wandert, sollte gelegentlich zweimal auf den Weg vor sich schauen. Zwischen Torf, Mulch oder Laub könnte sich hier ein Vogel befinden, der im Gegensatz zu vielen seiner entfernten Verwandten, tagsüber gerne auf dem Boden verweilt. Perfekt getarnt, mit Gefieder, welches braun, weiß, grau und schwarz gemustert ist und an Baumrinde erinnert, sitzt der Ziegenmelker völlig regungslos, quasi im Energiesparmodus, auf der Erde und wartet, bis die Dämmerung und damit sein Einsatz beginnt.
Jagt wie ein Wal
Nach einem erholsamen Tag zu Boden erhebt sich der Ziegenmelker, um auf Nahrungssuche zu gehen. Der nachtaktive Vogel ist ein meisterlicher Luftjäger und zielt zumeist auf Fluginsekten. Er benutzt dabei eine ausgeklügelte Technik: Insekten, die auf dem Heidegras sitzen, werden im Hinflug, wenn der Ziegenmelker ganz dicht über das Feld zieht, hochgejagt, um sie im Rückflug mit seinem breiten Schnabel, den er wie einen Kescher aufspannt, einzusammeln und zu fressen. Er ist ein überaus wendiger Flieger, der zu spektakulären Luftmanövern in der Lage ist. Wenn er sich durch Wanderer oder Naturbeobachter gestört fühlt, kann er heranrasen und seine Flügel geräuschvoll aneinanderschlagen. Besonders anpassungsfähig zeigt er sich direkt nach der Rückkehr nach Südwesteuropa, meist Mitte April. Ist es zu dieser Zeit noch zu kalt und fliegen daher kaum Insekten, kann der Ziegenmelker auf dem Boden sitzend in eine Art Lethargie verfallen, in der er seinen Stoffwechsel herunterfährt, um Energie zu sparen.
Ein Motorrad bittet zum Tanz
Sein Aufenthalt in Europa von April bis Ende September ist natürlich kein Zufall. Nach einem langen Winter in Afrika sucht sich der Langstreckenzieher europäische Freiflächen, um zu brüten. Wenn die Weibchen dann drei bis sieben Tage nach den Männchen in die Brutgebiete einfliegen, beginnt das stundenlange Schnurren der Männchen. Dieser sich wie ein weit entfernt fahrendes Motorrad anhörende Gesang lockt die Weibchen an, die sich mit dem Partner auf einen geeigneten Bodenbrutplatz einigen. Anders als die meisten Vögel bauen die Ziegenmelker kein Nest, was die Eier trotz perfekter Tarnung manchmal zu leichter Beute für Dachse, Marder, Wildschweine und andere macht. In diesem Fall kommt es bei Ziegenmelkern oftmals zur sogenannten Schachtelbrut, wobei das Weibchen nur einen Monat nach der ersten Brut nochmals Eier legt, um die Wahrscheinlichkeit von erfolgreichem Nachwuchs zu erhöhen.
Der Bestand des Ziegenmelkers in Europa ging im letzten Jahrhundert aufgrund der Umwandlung und intensiveren Nutzung seiner Lebensräume stark zurück. Er wurde bereits auf Roten Listen geführt. Auch wenn es teilweise zu Erholungen der Bestände kam, kann nur gehofft werden, dass in Zukunft mehr Nachwuchs durchkommt, sodass der Mythos des nächtlichen Milchdiebes noch lange weitererzählt werden kann.
Steckbrief
Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus)
Verwandtschaft: Gehört zur Vogelfamilie der Nachtschwalben mit etwa 100 Arten in 20 Gattungen, jedoch zusammen mit dem Rothals-Ziegenmelker das einzige in Europa vorkommende Familienmitglied.
Lebensraum und Verbreitung: Lebensräume sind helle Kiefernwälder mit sandigem Boden und großen Freiflächen, sowie Moore und Heiden. Dämmerungs- und nachtaktiv, in Deutschland Mitte April bis in den Spätsommer anzutreffen, vor allem in Niedersachsen und den östlichen Bundesländern, bis er sich zum Überwintern nach Afrika verabschiedet.
Nahrung: Ernährt sich vor allem von Fluginsekten, insbesondere von Schmetterlingen und Käfern.
Aussehen: 24 bis 28 cm groß mit einer Flügelspannweite von 52 bis 59 cm. Sein Gefieder ist braun, weiß, grau und schwarz gemustert und er hat einen flachen Kopf mit einem sehr kurzen, aber sehr breiten Schnabel, der von Borsten umgeben ist.
Stimme: Zur Balz lässt das Männchen nachts ein monotones Schnurren ertönen, das an ein entfernt vorbeifahrendes Motorrad erinnert.
Dieser Artikel erschien in der DUHwelt 1/2022.